Nikil

 

Strassenkinder in Pokhara

 


Noch nie habe ich eine so tolle Geburtstagskarte gesehen …


Vor 15 Jahren, am Ende des Bürgerkriegs, tauchten die ersten Strassenkinder in Pokhara auf. Innert kürzester Zeit gehörten die Horden von wilden, schmutzigen, und verwahrlosten Kindern zum Strassenbild. Die Kids organisierten sich in Gangs, «sammelten» alles was sich irgendwie in Cash oder Food umsetzen liess, schliefen unter Brücken und in finsteren Strassenecken, oft auch zugedröhnt mit Drogen und vom Leimschnüffeln.


Verhasst in der Gesellschaft

Für die Öffentlichkeit wurden die Kinder schnell zum Sinnbild von allem, was in der Gesellschaft falsch war – dahingehend, dass die Kinder regelrecht verhasst wurden. In den Augen der Obrigkeit waren die Kids ein Problem bezüglich Sicherheit – mit dem Resultat von unglaublicher Polizei Brutalität gegenüber den Kindern. Für die Unterwelt stellten die Kids eine Ressource dar als billige Arbeitskraft und Abnehmer von Drogen. Für uns: Menschen in Not, die Hilfe brauchen.


Die Anfänge

Ich erinnere mich ans erste Mal, als ich eine Ladung Momos (Teigtaschen) kaufte und am Strassenrand mit einer Gruppe von Kindern teilte. Weder die Kids noch die Passanten wussten so recht, was sie davon halten sollten, dass da ein Bleichgesicht mit den Kids am Strassenrand Momos ass. Auch ich hatte wenig Ahnung davon, dass dies der erste Schritt war zu unserer umfassenden und langjährigen Arbeit mit den Strassenkids.

 Viele von Ihnen wissen, wie sich daraufhin die Strassenküche, die Notunterkunft, das Street-to-School Heim und die Lehrwerkstatt entwickelt haben. Oft hat sich das Ringen um die Strassenkinder wie der Kampf von David gegen Goliath angefühlt – mit einer Steinschleuder gegen das Arsenal des Bösen. Gegenüber dem Würgegriff von unsäglichen Traumata, Drogen und Gewalt erschien unser Ansatz von Zuneigung, Essen, Unterkunft und viel Liebe oft so machtlos.

Bilder aus der Notunterkunft in Pokhara


Die Situation heute

Tatsache aber ist, dass es heute kaum noch Kinder auf der Strasse gibt, und dass 80 ehemalige Strassenkids bei uns im Street-to-School Heim leben. Sie haben den Schritt weg von der Strasse geschafft und machen ganz tolle Fortschritte. Sie lernen, mit Hoffnung, Perspektive, Vergebung und Freude zu leben.


Nikil

Während meines Besuchs im Street-to-School Heim in November hatte Nikil, einer der älteren Jungs, Geburtstag. Ich kenne Nikil seit fast zehn Jahren – nicht so gut wie die Heimeltern ihn kennen, aber trotzdem gut genug, um zu sehen, wie toll er sich entwickelt, und wie er mit zunehmend effizienteren Strategien mit seinem Trauma und seiner schlimmen Kindheitserfahrung umgeht. Vor dem Frühstück wurde er gefeiert, mit fröhlichem Happy-Birthday-to-you Gesang. Einige der anderen Kids überreichten Nikil selbstgemachte Geburtstagskarten und Geschenke. Während dem Frühstück dann kamen Nikil und sein Freund Amar auf mich zu, und voller Stolz zeigte mir Amar die Geburtstagskarte, die er dem etwas verlegenen Nikil gemacht hatte.

Noch nie habe ich eine solch tolle Geburtstagskarte gesehen: Künstlerisch eher bescheiden, aber inhaltlich unglaublich. Amar benennt in der Karte die Qualitäten, die er in Nikil sieht: dass er wie kein Anderer den Ball drehen kann im Fussball, dass er ein guter Erzähler von Witzen ist, dass er seine Laune nicht an anderen auslässt, und dass er ausdrücken kann, was andere bloss fühlen. Dass er ihm Mutter und Vater ersetzt. Dass er sich von Nikil gesehen, gehört und verstanden fühlt. Dass er stolz darauf ist, Nikil als Freund zu haben.

 Wow – da fehlen mir schlicht die Worte, und auch beim Schreiben dieser Zeilen sind die Emotionen gewaltig. Kinder, einst ungehört, ungesehen und unverstanden, sind jetzt nicht nur gehört, gesehen und verstanden, sondern nehmen auch die Realität und Bedürfnisse ihrer Kameraden war. Auch mit der «Steinschleuder» können wir der Zerstörungskraft von«Goliath» entgegentreten und etwas ausrichten. Dafür bin ich unendlich dankbar.